Keir Starmer: Radikaler der Mitte (2024)

Labour-Chef Keir Starmer machte Schluss mit links – und dürfte bald britischer Premier werden.

Von Jochen Bittner

Aus der ZEIT Nr.26/2024

Veröffentlicht am
Erschienen in DIE ZEIT Nr.26/2024

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Keir Starmer: Radikaler der Mitte (1)

Der Mann kann sagen, was er will, sein Körper sagt: Er mag dieses Theater nicht. Aber es ist eben mal wieder Mittwochmittag in Westminster, der Oppositionsführer Seiner Majestät muss da durch. Prime Minister’s Questions heißt das Ritual im britischen Unterhaus, bei dem das Parlament die Regierung in die Kritik nimmt. An jedem Sitzungsmittwoch der vergangenen knapp zwei Jahre hieß es also: Rede-Duell zwischen dem Labour-Chef Keir Starmer und dem Regierungschef der Tories, Rishi Sunak. Diesmal geht es um den NHS, den nationalen Gesundheitsdienst, der am Boden liegt. "Wir brauchen Reformen", attackiert Starmer den Premier, "wir brauchen Veränderung!"

Was Starmer bei diesem Auftritt vor drei Wochen noch nicht weiß: Es wird wohl seine letzte Parlamentsrede als Oppositionsführer gewesen sein. Nur wenige Stunden später ruft Rishi Sunak überraschend Neuwahlen aus, sie sollen am 4. Juli stattfinden. Schon in wenigen Wochen dürfte es Keir Starmer sein, der als neuer Regierungschef in 10 Downing Street all die Reformen und Veränderungen auf der Insel herbeiführen darf, die er sich wünscht. Doch während der quasi-designierte neue Premier im Parlament spricht, neigt er immer wieder den Kopf Richtung Brust und klemmt die Arme an den Oberkörper. Es ist eine Schutzhaltung. Sie signalisiert: Das Ganze hier gefällt mir eigentlich nicht.

Warum? Starmers Labour-Partei liegt in Umfragen seit Monaten mit rund zwanzig Prozentpunkten vor den Tories, die Wahl scheint ein done deal, also entschieden. Nach 14 Jahren konservativer Regierungen herrscht in Großbritannien verbreitete Depression über den Zustand des Landes. Bröckelnde Schulen, ein rasanter Anstieg der Lebenshaltungskosten, Rekordeinwanderungszahlen, ein kaputtgesparter Gesundheitsdienst, dazu vier Premiers, ein Brexit und ein Monarchinnenbegräbnis innerhalb von vier Jahren: Die späte elisabethanische Ära empfanden viele Briten als eine des Abstiegs und Verlusts, und über alldem präsidierten die Tories. Als Quittung droht den Konservativen eine historische Niederlage.

Wieso dann wirkt Starmer, als würde er am liebsten seine Sprechzettel zusammenkehren und irgendwohin verschwinden? Die Erklärung liegt in Starmers Biografie. Als Politiker ist der 61-Jährige ein Spätberufener. Geprägt hat ihn eine andere, stillere Leidenschaft.

Der Völkerrechtler und Schriftsteller Philippe Sands kennt Starmer seit mehr als dreißig Jahren, er nennt ihn einen guten Freund. Kennengelernt haben sie sich in der, wie Sands es nennt, lefty legal community, der linken Juristenszene Londons, Anfang der 1990er-Jahre. Starmer, Sohn einer Krankenschwester und eines Werkzeugmachers aus dem ländlichen Südengland, durchlief nach dem Studium in Leeds und Oxford eine steile Karriere als Menschenrechtsanwalt. Er verteidigte Angeklagte, denen in Commonwealth-Staaten in der Karibik oder Afrika die Todesstrafe drohte, und vertrat Aktivisten, die gegen ihrer Meinung nach irreführende Werbung von McDonald’s vorgingen. Mitte 2008 wurde Starmer zum Director of Public Prosecutions für England und Wales ernannt, ein Amt, das ungefähr vergleichbar ist mit dem eines deutschen Generalstaatsanwalts. Labour-Mitglied war Starmer zwar schon seit seiner Jugend. Aber erst 2013, mit 52 Jahren, entschied er sich, fürs Unterhaus zu kandidieren.

Wer so lange Jurist gewesen sei, sagt Philippe Sands, könne diesen Charakter nicht mehr abschütteln. Und der grundlegende Unterschied zum Politiker sei nun mal: "Wenn man vor einem Richter steht, reicht es nicht, zu sagen, was man denkt. Man muss beweisen können, was man sagt." Deshalb das Fremdeln Starmers mit einem politischen Betrieb, bei dem es eben auch um Bühnenfeuerwerk geht. Und deshalb das Fremdeln des Publiku*ms mit Starmer. Das Attribut, das Wählern am häufigsten einfiel, als sie vor zwei Jahren von Meinungsforschern nach Starmer gefragt wurden, lautete: boring, langweilig.

Ein zwar unwahres, aber nicht unpassendes Gerücht lautete, Starmer sei das Vorbild gewesen für den ebenso gut aussehenden wie verpeilten Menschenrechtsanwalt Mark Darcy im später verfilmten Buch Bridget Jones. Dessen Autorin, Helen Fielding, bestreitet das zwar. Aber als Starmer 2020 Parteichef wurde, sagte sie dem Guardian, ja, doch, er erinnere sie schon sehr an Darcy. "Ich will ihm immer zurufen: Komm schon, Keir, lockere mal die Krawatte, und verwuschele dir das Haar!" Boris Johnson, schwer verwuschelter Tory-Kurzarbeiter in Downing Street, beschrieb Starmer ein bisschen weniger fürsorglich. Er nannte ihn einen "mächtigen nichtssagenden menschlichen Poller". Alles sehr lustig, natürlich.

Aber womöglich unterschätzen viele Briten Starmer auf ähnliche Weise, wie sie den Polit-Entertainer Boris Johnson vor einigen Jahren überschätzten. Das Bild vom no drama-Starmer erweist sich jedenfalls dann als falsch, wenn man den Aufruhr betrachtet, den er innerhalb seiner Partei erzeugt hat. Starmer übernahm den Vorsitz im Frühjahr 2020 von dem weit links stehenden Jeremy Corbyn, den er zuvor unterstützt und einen "Freund" genannt hatte. Das war entweder gelogen – oder Starmer ist erst reichlich spät aufgegangen, dass Labour nur dann wird regieren können, wenn die Partei sich von Grund auf ändert. Jedenfalls begann Starmer, kaum gewählt, mit außerordentlicher Härte, Labour weit hinein in die politische Mitte zu zerren. In dieser Korrektur liegt ein Potenzial für die Sozialdemokratie, das – sollte Starmers Kurs von den Wählern belohnt werden – weit über Großbritannien hinauswirken könnte.

Keir Starmer: Radikaler der Mitte (3)

Labour vorne

Umfragedurchschnitt zu

den Wahlabsichten der Briten

50 %

44 %

Labour

Konser-

vative

25 %

23 %

Grüne

Reform

Liberale

andere

2021

22

23

24

ZEIT-GRAFIK/Quelle: The Economist,

Stand: 11. Juni

Keir Starmer: Radikaler der Mitte (4)

Labour vorne

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Reform

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ZEIT-GRAFIK/Quelle: The Economist,

Stand: 11. Juni

Keir Starmer: Radikaler der Mitte (5)

Labour vorne

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Liberale

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ZEIT-GRAFIK/Quelle: The Economist, Stand: 11. Juni

Keir Starmer: Radikaler der Mitte (6)

Labour vorne

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ZEIT-GRAFIK/Quelle: The Economist,

Stand: 11. Juni

Keir Starmer: Radikaler der Mitte (7)

Labour vorne

Umfragedurchschnitt zu

den Wahlabsichten der Briten

50 %

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Labour

Konser-

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Grüne

Reform

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ZEIT-GRAFIK/Quelle: The Economist,

Stand: 11. Juni

Wobei nicht jeder Parteichef derart durchgreifen könnte wie Starmer: Die Führungsgremien britischer Parteien haben die Möglichkeit, Mitglieder kurzerhand zu verbannen. Starmer nutzte diese Macht ausgiebig. Bis Januar 2022 ließ er laut seinem Biografen rund 300 Mitglieder aus Labour verbannen, denen Antisemitismus vorgeworfen wurde. Viele Tausende "Corbynistas" traten zusätzlich aus. Dieser Exodus hielt Starmer nicht davon ab, weiter zu fegen. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine machte er klar, dass er keinerlei Appeasem*nt-Signale gegenüber dem Kreml dulden werde. Nachdem der Twitter-Account der Labour-Jugend der Nato "Aggression" vorgeworfen hatte, ließ Starmer ihn schließen, mit dem Argument, wer das Bündnis kritisiere, der riskiere, "autoritären Führern Beistand zu leisten, die unmittelbar Demokratien bedrohen". Elf Labour-Abgeordnete, die eine Stellungnahme unterzeichnet hatten, die vor einem "Säbelrasseln" des Westens gegenüber Russland warnte, brauchten 45 Minuten, bis sie ihre Signaturen zurücknahmen. Starmer hatte ihnen gedroht, anderenfalls werde ihnen die Fraktionsmitgliedschaft entzogen.

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